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"Warum ist der Himmel blau?"
Bei dieser Frage könnte man meinen, es handele sich um den Arbeitstitel eines Einspielers in der Sendung mit der Maus. Nah dran! Denn im weiteren Verlauf dieser Schilderung aus den Erlebnissen eines urbanen Gelegenheitspendlers geht es immerhin um KATZEN! Im übertragenen Sinne zumindest. Warum der Himmel blau ist, soll hier ebenfalls nicht ausdiskutiert werden. Nein, ich möchte mit diesem berüchtigten Elternschreck einer kindlichen Warum-Frage einleiten, dass wir Menschen uns schon von kleinauf am Wissen und erprobten Handeln unserer Mitmenschen laben. Denn allein sind wir Nichts.
Ein oftmals unangenehm niedriges Niveau des Alleinseins ereilt mich regelmäßig im öffentlichen Nahverkehr. Ei, welch grandiose Stücke ich bisweilen auf der Bühne des beförderungsentgeltgeförderten Sozialtheaters bestaunen dürfte! Der vom Leben gezeichnete Messermann mit den blutigen Knöcheln. Der obligatorische Wohngruppenmann, der alle Haltestellen auswendig kennt und synchron zur Bandansage mitbrüllt. Mann schlägt Frau. Frau schlägt Mann. Kind beißt Hund. Hund beißt Kind. Bravo! Oder auch nicht.
Besonders angenehm, da folgenlos für Leib und Seele aller Betroffenen, sind jedoch die traditionellen ÖPNV-Kammerspiele. Sie ereignen sich meist in den Vierersitzgruppen und erhalten Würze und Pepp durch engagiertes, den schmalen Raum geschickt nutzende Duett- oder Quartettdarbietungen. Denn wo räumliches Alleinsein in Beförderungssituationen zu Stoßzeiten oft unmöglich ist, stoßen sich insbesondere jüngere Fahrgäste auffällig wenig an der entsprechend unvermeidlichen Öffentlichkeit all ihrer Konversationen.
Und so begab es sich unlängst, dass ich die weniger durch Unfreiwilligkeit als durch Unbekümmertheit der beteiligten Akteure stattfindende Premiere eines solchen Kammerspieles verfolgen durfte. Sogar von einem Logenplatz im direkt angrenzenden Nachbarvierer. Gemeinsam mit der Abfahrt der Straßenbahn begann das Spiel, elegant begleitet von den mechanischen Klängen notdürftig gewarteter Fahrzeuggelenke und dem Rumpeln der Stahlräder. Die Akteure: Zwei Damen im jugendlichen Alter, vielleicht im frühen Erwachsenendasein. Zum Laufsport bzw. sonntäglichem Rumlümmeln entwickelte Beinkleider aus schwarzem Baumwollstoff. Dazu eine ebenfalls in dunklen Farben gehaltene, großzügig aufgeplusterte Winterjacke einer Marke, deren auf ihren norwegischen Gründer zurückzuführende Namensgebung stets almanische Schreckgespenster weckt, da sich das entsprechende, in der Marke als Logo zur Schau gestellte Akronym des Namensgebers in gewissen, nicht für ihre Xenophilie und Demokratiefreundlichkeit bekannten Kultur- und Politikströmungen einer gewissen Beliebtheit als semi-geheimes Erkennungszeichen erfreut. Die andere Dame erzeugte Prägnanz durch das Auftragen eines auffällig schillerhaften Halstuches der Marke Gucci. Und ohne weiter auf unwichtige Details der Erscheinungsbilder einzugehen, möchte ich diese jeweiligen Merkmale heranziehen, um den Akteurinnen adäquate Bühnennamen zuzuweisen. Wir verfolgen nachstehend also die Darbietung von Helly (H.) und Gucci (G.).
H.: "Alter ich hasse es so, ne?"
G.: "Was?"
H.: "Ich HASSE ES!"
G: "Ja, was denn?"
H: "Mit Wochenende!"
G: "Wieso was Wochenende?"
H: "Maaan, Geburtstag Patrick."
G: "Achso ja, aber was damit?"
H: "Ja er macht erst bei ihm bisschen so mit 6 oder 7 Leuten und dann gehen wir in Club."
G: "Standard, was schlimm daran?"
H: "Hab kein Geld, wette er gibt nur einen Drink oder so."
G: "Safe gibt es vorher bei ihm richtig, mach da doch schon voll."
H: "Hast recht stimmt, aber ist auch irgendwie nicer mit Drink im Club und so."
Ich muss zugeben, dass mich das Stück bisher nicht so sehr mitnehmen konnte. Natürlich, es holte die Umstehenden wunderbar ab, nahm sie mit in eine Situation, die jeder nachvollziehen kann. Feiern wollen, aber kein Geld. Das ist relatierbar! Nett! Aber ohne Spannungsbogen! Dafür schnell etablierte Charaktere: Helly schätzt die Freundschaft mit Gucci offenbar. Man kennt sich vielleicht schon lange. Helly holt sich Rat bei Gucci ein, wenn schwere Lebenslagen gemeistert werden müssen. Gucci besticht durch stoische Gelassenheit und präzise, zielführende Rhetorik. Kurze, einfache Lösungsvorschläge. Aber in welche Richtung sollte sich der Dialog noch bewegen?
Es vergingen nur wenige Minuten, in denen beide Damen sich wortlos mit ihren Smartphones beschäftigten. Ans Fenster der Straßenbahn prasselte ein Regenschauer. Im vollen Wagon ein allgemeines Murmeln und Raunen. Ein blasser Dreiklang geht einer Bandsange voraus, die nächste Haltestelle wird angekündigt. Ding Dang Dong. Mitten in Gedrängel und aufstehenden Fahrgästen setzen Helly und Gucci ihr Stück fort. Ich spitze meine Ohren erneut.
H: "Eigentlich scheiße."
G: "Was?"
H: "Eigentlich scheiße. Achso. Ja also mit dem Geld."
G: "Wieso?"
H: "Guck ich habe meinen Dad letztens gefragt ob ich mehr bekommen kann. Meint er nur Nein, gibt nicht mehr. Dann halt manchmal von Oma oder so aber hilft nicht."
G: "Wobei?"
H: "Ja hilft nicht wenn ich zu wenig bekomme Zuhause und nur manchmal noch von woanders. Kann man ja nicht mit planen. So Klamotten und so geht klar manchmal shoppen bekomme ich Geld. Aber halt für Feiern und einfach mal irgendwie nach der Schule was und so halt nicht."
G: "Ey ohne Scheiß Klara hat zwanzigtausend Follower jetzt auf TikTok, kein Plan was das bringt."
H: "Nee will nicht TikTok machen vor allem das dauert mega lange bis man da echt was mit ranholt glaub ich, Klara macht schon seit Jahren und halt auch andauernd in der Schule und so. TikTok will ich nur gucken nicht machen."
G: "Hm."
H: "Halt was schnell geht."
Gucci versteckt sich hier hinter einer bisher nicht dagewesenen, ungewöhnlich langen Pause. Ich meine erahnen zu können, dass sie aus dem Fenster schaut. Vielleicht bemüht sie die verregnete Betonkulisse, die wir gemeinsam passieren, als Inspiration. Nach kurzer Zeit widmet Helly sich wieder ihrem Smartphone. Doch Gucci scheint etwas ersonnen zu haben. Oh ja, das hat sie. Nein, wieso der Himmel blau ist - bzw. heute grau und wolkenverhangen - wird sie nicht erklären. Aber sie wird der tragenden Rolle dieser Freundschaft gerecht. Sie empfiehlt. Sie hat einen Rat. Und es folgt eine pointierte Empfehlung:
"Zeig doch Schlitz auf Onlyfans."
BRAVO! BRAVO! Ich unterdrücke den Impuls, Beifall zu klatschen. Noch eben rechtzeitig werde ich mir bewusst, wo ich mich eigentlich befinde und was für eine unvergleichbare Darbietung ich gerade miterleben durfte. Zeig doch Schlitz auf Onlyfans, was für ein Satz! Nein, was für ein Rat! Die Antwort auf alles.
"Ich hab Stress in der Ehe und ein Spielproblem entwickelt, was soll ich tun?" - Zeig doch Schlitz auf Onlyfans!
"Scheiße das Amt hat nicht pünktlich überwiesen brauche aber Kippen man!" - Zeig doch Schlitz auf Onlyfans!
"A second plane hit the second tower. America is under attack." - Und so weiter!
Ich klau das. Ich übernehme das. Und wenn mich wer fragt, wieso ich die Gespräche anderer in der Bahn belausche, werde ich mich dieses Ausrufs bedienen. Aber nun ging mir in dieser retrospektiven Euphorie fast durch, was die Ratempfängerin denn zu diesem Tipp sagte. Nun, gar nichts. Denn Helly und Gucci sahen sich kurz an und brachen dann in ein herzhaftes Gelächter aus. Und damit schloss sich der Vorhang für mich leider schon. Ding Dang Dong - nächster Halt: Hauptbahnhof. Regenwolken verziehen sich, der Himmel klart auf. Wieso ist er eigentlich blau? Auf Wiedersehen. Danke, bis zum nächsten Mal. Und stets eine gute Fahrt. Für alle.
Vertonungspremiere von u/Rochhardo hier!
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